Moos
.     startseite . impressum/datenschutz . übersicht/sitemap . karte . kontakt .
Ralph Eid . Landschaftsarchitekt . Gerbersdorf 25 . 84381 Johanniskirchen . Tel 08564/91004

Leitkultur

'Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.' Ich weiß, ich wiederhole mich; aber etwas anderes fällt mir einfach nicht ein, wenn ich die Diskussion der politischen Elite über so manche Themen verfolge. Eigentlich ist es ja keine Diskussion, sondern nur Anfeindungen. Bei bestimmten Themen wird ja in der Öffentlichen Debatte nicht mehr diskutiert, da hat man seinen Standpunkt, und der ist sakrosankt. Eins dieser Themen ist die Wertedebatte, vor allen Dingen in Zussammenhang mit typisch deutschen Werten, die in der Migrationsproblematik immer wieder mal auftaucht. Als ich im Internet nach Beiträgen zu Werten gesucht habe, bin ich bei Wikipedia auf den Begriff 'Leitkultur' gestoßen. Der Begriff wurde von Bassam Tibi 1996 zum ersten mal benutzt, und zwar in Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum multikulturellen Relativismus und Werte-Verlust. 2001 warnte er, 'ein Europa als Multi-Kulti-Sammelwohngebiet ohne eigene Identität drohe zu einem Schauplatz für ethnische Konflikte und für religiös gefärbte, politisch-soziale Auseinandersetzungen zwischen Fundamentalismen zu werden. Für Tibi bestehen die Werte für die erwünschte Leitkultur aus Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft. Eigentlich ist es bezeichnend, dass die Anregung zu diesem Thema von einem eingewanderten Deutschen (aus Syrien) stammt.

Als die CDU das Thema aufnahm, und zwar erstmals durch Friedrich Merz im Jahr 2000, entstand eine ziemlich abartige Debatte zwischen den politisch Verantwortlichen. Auf der einen Seite die CDU/CSU, auf der anderen Seite die Roten und die Grünen. Mittlerweile beansprucht die AfD, wie es scheint, die Eigentumsrechte für sich.

In der Diskussion ging es schon bald nicht mehr um den ursprünglichen Ansatz und Inhalt. Wenn man sich die in Wikipedia aufgeführten Stellungnahmen und auch die Diskussion darüber anschaut, hat man den Eindruck, jeder versteht irgendetwas anderes unter dem Begriff. Was gar nicht so schlimm wäre, wenn man sich vorurteilsfrei darüber austauschen würde. Bei uns tut man so etwas aber nicht. Bei uns hat jeder eine affektive Vorstellung von dem Begriff Leitkultur, die er auch seinem Gegenüber unterstellt, weshalb der dann sofort ebenso affektiv verurteilt wird. Mag sein, dass die Medien diese verkürzte und zugespitzte Darstellung befördern, weil Schlagzeilen mit prägnanten Meinungen besser ankommen als abwägende und damit langatmige Ausführungen.

Die Diskussion passt zu der Aussage eines Buches, das ich gerade lese: 'Die Deutschen, eine Autobiographie', von Johannes Fried. Er beschreibt die Geschichte Deutschlands aus der Sicht von Dichtern und Denkern. Wobei er schnell feststellt, dass die Charakterisierung als das Volk der Dichter und Denker nicht mehr als eine Illusion ist. Ein Volk der Ja-Sager und Mitläufer würde es seiner Meinung nach besser treffen. Keine authentischen kulturellen Werte. Alles von fremden Nationen übernommen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit von den Franzosen, Bürgerrechte von England, Menschenrechte aus Amerika. Lediglich der Militarismus, getragen von einer überlegenen Schwerindustrie, der zum ersten und zweiten Weltkrieg führte, eine typisch deutsche Eigenschaft.

deutsche Selbstfindung

Die Tragik des Deutschen erschließt sich nur zwischen den Zeilen. Um Deutschland, besser: die Deutschen zu verstehen, muss man nämlich wissen, dass es ein Deutschland genau genommen erst seit Bismarck gibt. Nämlich seit 1871, als im Spiegelsaal in Versailles das Deutsche Reich proklamiert wurde. Auch das ist an sich schon bemerkenswert: Deutschland wurde in Frankreich gegründet!

Zuvor bestand Deutschland fast 1000 Jahre aus einem mehr oder weniger lockeren Zusammenschluss verschiedener Fürstentümer, die einen gemeinsamen Kaiser für das 'Heilige Römische Reich Deutscher Nation' wählten. Je schwächer der Kaiser war, desto großspuriger betätigten sich die Fürsten, von denen ein Teil noch dazu als Kurfürsten auch dem Papst unterstanden. Jahrhundertelang herrschten Partikularinteressen statt deutscher Gemeinschaft. Ein erster Versuch, Ordnung zu schaffen, geschah mit dem Westfälischen Frieden am Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648. Er gilt als der Beginn einer europäischen Friedensordnung zwischen gleichberechtigten Staaten und friedlichem Miteinander der unterschiedlichen Konfessionen. Allerdings war er kein Ergebnis des aufrechten Willens der beteiligten Völker. 30 Jahre Krieg hatten die Menschen so zermürbt, dass niemand mehr die Kraft hatte weiterzukämpfen. Die Zersplitterung des deutschen Reiches bestand also fort, nur die Souveränitätsrechte der kleinen und größeren Fürstentümer waren sozusagen völkerrechtlich geregelt.

Im Gegensatz z.B. zu England, Frankreich oder Spanien war Deutschland keineswegs ein Nationalstaat, sondern lediglich ein lockerer Zusammenschluss vieler Fürstentümer, mit vielen inneren Zollgrenzen, die mehr die Verschiedenheit demonstrierten als die Gemeinsamkeiten.

Auch die Sprache zerfiel in viele unterschiedliche Dialekte. Man braucht nur heute noch vom Bayerischen Wald nach Norddeutschland zu reisen, um zu verstehen, wie groß das Durcheinander der verschiedenen Sprachen war. Man kann das durchaus auch heute noch deutlich nachvollziehen: Ich als eingewanderter Bayer verstehe meine hier geborenen Söhne nicht, wenn sie sich mit ihren Frauen oder Freunden unterhalten. Bezeichnend ist die Wortbedeutung von 'deutsch': Es leitet sich vom germanischen thiudisk ab, was im Mittelhochdeutschen zu tiutsch wird, und so viel wie 'zum Volk gehörig' bedeutet. Die Sprache der Gelehrten und Herrscher war Latein, deutsch war daher die eher abfällige Bezeichnung für die Sprache des gemeinen Volkes, der dummen Leibeigenen und Bauern.

Immerhin bildete sich durch die Bibelübersetzung von Martin Luther eine gemeinsame deutsche Sprache heraus, die die unterschiedlichen Dialekte überwand. Mag sein, dass die gemeinsame Sprache die Sehnsucht nach einer gemeinsamen Nation weckte. Vielleicht war die Sprache aber nur Ausdruck dieser Sehnsucht. Karte von Deutschland um die Zeit von Napoleon

Ein erster Fortschritt im Zusammenwachsen der Deutschen kam nicht von den Deutschen selbst, sondern von Frankreich. Es war Napoleon, der frischen Wind nach Deutschland brachte: 1803 löste er 112 deutsche Kleinterritorien auf, Kirchengüter wurden enteignet und Klöster aufgelöst. Vielerorts wurde der Code Napoleon eingeführt, der Adelsprivilegien, Zunftzwang und bäuerliche Abhängigkeitsverhältnisse abschaffte. Das Volk begrüßte Napoleon als Heilsbringer, der im Namen der Aufklärung Fortschritt und Modernisierung brachte. Auf der anderen Seite schweißte die Fremdherrschaft das Volk zusammen, so dass Napoleon letztendlich doch wieder vertrieben wurde. Viele Studenten nahmen an den Befreiungskriegen auf Seite der Franzosen teil. Statt auf den König schworen sie allerdings auf das Vaterland

Viele der von Napoleon eingeführten Neuerungen blieben auch nach seiner Vertreibung bestehen. Das Volk hätte wohl schon damals eine weitergehende Einigkeit begrüßt, das scheiterte aber an der Uneinigkeit der dt. Herrscher. Die großdeutsche Lösung, wie von vielen angestrebt, war von vorneherein illusorisch, da entweder Österreich oder Preußen auf ihre Macht hätten verzichten müssen.

Aber es gärte in Europa. Um 1830 kam es zur französischen Julirevolution, zum polnischen Novemberaufstand, zur Belgischen Revolution. Die Deutschen Bürger schafften zwar keine Revolution, sie kamen nur bis zum Hambacher Fest 1832, das bis heute als Symbol für die Einheitsbestrebung gilt. Als bleibendes Zeichen ist bis heute die schwarz-rot-goldene Fahne geblieben.

Auch der nächste zaghafte Revolutionsversuch 1848 wurde niedergeschlagen. Klare Verhältnisse schaffte erst Bismarck 1871. Er bevorzugte pragmatisch die kleindeutsche Lösung ohne Österreich. Ebenso wie der Beginn der Nation von militärischer Stärke geprägt war, war es auch das Ende nur knapp 50 Jahre später. Was wäre wohl gewesen, wenn das Volk die Zügel in die Hand bekommen hätte? Doch solange es aufwärts geht, die industrielle und militärische Stärke zunimmt, ist es verführerisch, sich als Bürger mit der Herrschaft zu identifizieren. Parallelen mit der Situation heute sind nicht zu übersehen: Warum sollen wir uns Gedanken über unsere Situation machen, solange es uns doch gut geht?

War es vor 1914 die Gewissheit gemeinsamer Stärke, die das Nationalgefühl beflügelte, so war es nach 1918 das Gefühl für die Schwäche und Demütigung, die Nationalgefühle anheizte. Die desolate Lage nach der endgültigen Niederlage durch die Reparationsforderungen der Siegermächte und die Weltwirtschaftskrise 1929 bestärkten das Volk in der Opferrolle. Die Aussichtslosigkeit der Situation gebar den Wunsch nach einem starken Führer. Die Geschichte wiederholte sich.

Es ist schwierig, geschichtliche Ereignisse zu deuten. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde uns – dem deutschen Bürger – fortwährend eingetrichtert, die übergroße Schuld, die wir auf uns geladen haben, nehme uns das Recht, jemals wieder über deutsche Werte, über deutsche Identität nachzudenken. Für viele, insbesondere auf der linken Seite des politischen Spektrums, schien es am besten, die deutsche Identität ohne Übergang in eine europäische einfließen zu lassen. Wer um Himmels willen braucht deutsche Werte?

Der kurze geschichtliche Abriss sollte belegen, dass die Deutschen bis jetzt noch gar keine Gelegenheit hatten, ihre Identität zu finden. Das dumme Volk in Mitteleuropa war jahrhundertelang fremden Einflüssen ausgesetzt, war geprägt von Ein- und Auswanderung. Ein Konglomerat aus Menschen unterschiedlicher Herkunft, die einwanderten oder einfach nur durchzogen. Für eine kurze Zeit herrschte Aufbruchstimmung, Aufklärung und Humanität erfassten auch Deutschland. Doch die großen Dichter und Denker, Goethe, Schiller, Herder, Lessing, Hegel und wie sie sonst alle heißen, gelangten nicht in die Herzen der einfachen Bürger. Die bürgerliche Revolution hatte keine Stoßkraft wie in anderen Ländern. Von Selbstbewusstsein des Volkes konnte noch keine Rede sein. Als dann Bismarck die Nation gründete, war das ein mehr oder weniger von außen aufgezwungener Akt. Auf den Höhenflug folgte der Absturz, und erst ein neuer Führer weckte die Hoffnung auf eine Erholung, egal wie pervers seine Absichten auch waren. Die nächste Niederlage war nur deshalb nicht endgültig, weil sich ein kommunistischer Machtblock bildete, der die deutsche Frage irrelevant werden ließ.

Lehrjahre

Aber ein selbstbestimmtes Leben war das, was auf 1945 folgte, auch nicht wirklich. Doch wir lernten. Wir wurden demokratisch. Und dann haben wir es geschafft, die erste friedliche Revolution in der Weltgeschichte hinzubekommen. Der Ruf 'Wir sind das Volk' war zwar unüberhörbar, aber gewaltlos. Auch etwas, was es noch nie vorher gab. (Der Widerstand Ghandis war zwar auch gewaltlos, aber das Ergebnis war es weniger.) Zugegeben – wir hatten auch Glück: die Weltlage war uns durch die Perestroika günstig gesonnen.

Ich hatte damals gehofft: Jetzt kommt etwas neues. In Wirklichkeit setzte sich lediglich das westliche Wirtschaftsmodell durch. Und jetzt, 30 Jahre danach, sind die Zukunftsaussichten nicht gerade rosig:

Weltweit nehmen Krisen zu. Die Verlierer flüchten zu uns, und wir sind überfordert. Seit Jahrzehnten wissen wir, dass das Klima aggressiver wird, aber unsere Politiker verschlafen die Zeichen der Zeit. Erst jetzt begreifen sie langsam, wie gefährlich die Lage ist und reagieren hektisch ohne eine klare Zielrichtung. Die Landwirte haben das Grundwasser vergiftet und die biologische Vielfalt, sowohl Pflanzen, als auch Tiere, weitgehend dezimiert. Auch in dieser Beziehung hat die Politik keine Antworten gefunden. Erst das Volksbegehren 'Rettet die Bienen' hat die etablierten Parteien aufgeschreckt. Die multinationalen Konzerne sind juristisch nicht greifbar und machen weitgehend, was sie wollen. Wenn ich heute ein Jugendlicher wäre, könnte ich nicht hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.

Ist es da ein Wunder, wenn die Parteien mit den einfachen Lösungen wieder gewählt werden? Wenn sich das Gefühl der Ohnmacht breit macht, gewinnt die Sehnsucht nach einem starken Führer wieder die Oberhand. Siehe Amerika und jetzt auch England mit Boris Johnson. Beide vermitteln ein Nationalgefühl, das an die großen Zeiten erinnert. Das mag das in unserer Zeit falsche Nationalgefühl sein, aber eine wirkliche Alternative ist nirgends zu erkennen. Auf der anderen Seite erkennt man Wirtschaftsliberalismus, Globalisierung, Multi-Kulti, Selbstaufgabe – alles keine Ziele, die Identität vermitteln.

Die Forderung nach einer Leitkultur hat nichts mit Vormacht, mit Unterdrückung von Minderheiten, mit Gewalt gegen Andersdenkenden zu tun. Sie entspringt ganz natürlich aus der Suche nach Identität, dem eigenen Wert. So wie der einzelne Mensch etwas über den Sinn seines Lebens zu erfahren sucht, sucht ein Volk, eine Nation, in ähnlicher Weise nach dem Sinn ihrer Existenz. Diesen Sinn von vorneherein zu leugnen und ihn in der übergeordneten Organisation, in unserem Fall also in Europa, zu suchen, ist illusorisch. Europa kann gerade mal eine wirtschaftliche Einheit anbieten, eine gemeinsame Identität ist weit entfernt. Es ist zu wünschen, dass wir es in einen fernen Zukunft dahin schaffen, heute aber ist das nicht mehr als ein frommer Wunsch.

Es ist ein Ausdruck von Schwäche und Ratlosigkeit, wenn man sich der Diskussion nicht stellen will. Wer diese Diskussion nicht führen will, überlässt die Antwort dem rechten Spektrum der Gesellschaft. Es hilft nichts, immer wieder auf die Defizite, auf Fehler und Unwahrheiten der Rechten hinzuweisen. Nur wenn etwas besseres in Sicht ist, besteht Hoffnung, dass ein Abgleiten in Machtfantasien, die nur die Ohnmacht verdrängen sollen, verhindert wird. In diesem Sinne ist es höchste Zeit, dass wir uns der Frage stellen: Wer sind wir und was wollen wir? Wenn wir die Antwort nicht selber finden, wird sie uns wieder einmal von außen gegeben werden.

Das alles hat nichts mit Ausgrenzung zu tun. Schon Paulus hat in seinem Brief an die Tessaloniker gesagt: 'Prüfet alles und behaltet das Gute!' Und nur darum geht es im weitesten Sinne. Die Problematik heutzutage besteht darin, dass eine Seite ihre Antworten bereits parat hat, die andere Seite aber allein schon die Frage leugnet. Dort wird gar nicht mehr zwischen gut und nicht gut unterschieden. Man meint, die Meinungsfreiheit oder die Menschenrechte lassen diese Frage gar nicht zu. Jeder darf leben, wie er es für richtig hält. Das kann aber nur so weit zulässig sein, wie er einen anderen, der auch leben will, wie er es für richtig hält, nicht behindert. Leitkultur bedeutet also auch: Wo sind die Grenzen des Andersseins? Müssen wir es z.B. zulassen, wenn deutsche Türken die Ideologie Erdogans importieren wollen? Oder wenn Neoliberalisten die soziale Ordnung zerstören wollen?

Die Geschichte zeigt, dass wir immer gescheitert sind, wenn wir wirtschaftliche Stärke mit Machtstreben kombiniert haben. Wenn wir andere Nationen imitiert haben, z.B. das viktorianische England durch das Kaiserreich. Das wirtschaftliche nicht von militärischer Stärke trennen konnte. Die Geschichte zeigt aber auch, dass wirtschaftliche Stärke quasi automatisch mit Macht verbunden ist. Das sieht man heute wieder in Europa. Deutschland ist zwar als größter Nettozahler bei allen Europäern beliebt, gleichzeitig wird die hiesige Entwicklung mit größter Aufmerksamkeit betrachtet. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass Frankreich der Wiedervereinigung nur zugestimmt hat, nachdem sich Deutschland trotz großer Bedenken auf den Euro eingelassen und damit einen Teil seiner Souveränität an Europa abgetreten hat.

Bewusstsein

Die von Bassam Tibi geforderten Werte (s.o.) sind zwar durchaus erstrebenswert, aber auch so abstrakt, dass man sich als direkte Handlungsempfehlung wenig darunter vorstellen kann. Beispiel Demokratie: wenn sich rechtsextremes Gedankengut weiter etabliert, könnte eine ultrarechte Partei ganz demokratisch die Regierung stellen. Und erst mal die Demokratie einschränken. Und etwas später ganz abschaffen. Das hat schon einmal funktioniert und könnte wieder funktionieren, gerade weil wir keine gemeinsamen Werte haben.

Oder Beispiel Rechtsstaat: Jeder Asylbewerber bekommt bei uns ein juristisches Verfahren, das Aufschluss über die Rechtmäßigkeit seines Antrages geben soll. Wie das bei uns so üblich ist, dauert es seine Zeit, bis alles geklärt ist. In der Zwischenzeit darf sich derjenige hier einrichten, so gut es geht: Er lernt freiwillig Deutsch, sucht Arbeit und findet auch welche. Wenn er Kinder hat, gehen die bereitwillig in die Schule. Kurz und gut: er integriert sich. Und dann, u.U. nach Jahren, entscheidet jemand, dass er keinen Anspruch auf Asyl hat und folglich abgeschoben wird. Das ist unmenschlich. Wenn wir so weit sind, dass wir juristische Korrektheit über Menschlichkeit stellen, läuft etwas total daneben. Es ist ein Kniefall vor den Ultra-Rechten, der so etwas möglich macht. Ich glaube nicht, dass alle von den 25 Prozent, die die AfD wählen, solche Verfahren in letzter Konsequenz gut heißen. Der gesunde Menschenverstand unterscheidet sehr wohl zwischen Integrationswilligen und denen, die unsere Gesellschaft verachten. Die etablierten Parteien sollten sich, statt sich krampfhaft von der AfD abgrenzen zu müssen, lieber fragen, wo die Wähler der AfD das gesellschaftliche Defizit sehen. Darüber wird kaum nachgedacht, wie mir scheint.

Es stellt sich überhaupt die Frage, wo wir die Werte ansetzen. Bei der Nation oder beim einzelnen Bürger. Schließlich ist die Nation nichts anderes als die Gesamtheit der Bürger. Man kann also von der Nation kaum andere Werte erwarten als die, die zumindest von der Mehrheit der Bürger geteilt werden.

Das aber ist eine Frage der geistigen Entwicklung. Solange die Gesellschaft bestimmt, was aus dem einzelnen wird – Beispiel Feudalsystem – braucht man von diesem Einzelnen auch kein individuelles Verantwortungsbewusstsein zu fordern. Das ist erst der Fall, wenn er soweit frei von gesellschaftlichen Zwängen ist, dass er selbst bestimmt, was aus ihm wird. Dieser Prozess, an dessen Ende die selbstbestimmte, freie Persönlichkeit steht, ist noch längst nicht abgeschlossen. Wir sind noch auf der Zwischenstufe des individuellen Egoismus. Das ist die Phase, in der der Mensch sich schon frei fühlt, wo die Selbstverwirklichung eine große Rolle spielt. Wo aber die andere Frage, welche Auswirkungen die eigene Selbstverwirklichung auf andere hat, noch geringe Bedeutung hat (siehe Freiheit). Was der Mensch aus sich selbst macht, was die vielen Menschen aus der Gesellschaft machen, ist abhängig von der Bewusstseinsentwicklung. Deshalb wird es nicht gelingen, durch Gesetze eine bessere Gesellschaft zu erreichen, sondern nur dann, wenn ein genügend großer Teil des Volkes das will.

Es ist überaus bezeichnend, was Stefan Heym in seiner Autobiografie ('Nachruf') schreibt. Er musste als fast noch Jugendlicher aus Chemnitz in die USA auswandern, weil er sich als Journalist, und dazu auch noch Jude, über die Nationalsozialisten lustig gemacht hat. Als er dann 1944 als GI in der Normandie landete, hat er immer wieder die deutschen Kriegsgefangenen zu ihrer Motivation befragt, warum sie dieses Regime und diesen Krieg unterstützt haben. Er schreibt: "Es hat Jahre gedauert, und ich musste erst wieder unter Deutschen leben, bis ich verstand, was in den Jahren nach 1933 vor sich gegangen war in Deutschland, und bis ich die Manipulierbarkeit des Menschen durch den Menschen in ihrer ganzen Vielfalt begriff. Was es da alles gab, um ein Wesen, zum Mann geboren, zu einem kleinen Mann zu machen: brutale Gewalt, gewiss, doch ebenso wichtig das Bedürfnis nach Einordnung, nach der Sicherheit, die diese gewährte, dazu die Versprechungen, dass einer teilhaben würde and den Benefizien der Macht und an der großen Zukunft des Volkes und an der Beute, die damit einherging; und als Allerwichtigstes das Alltägliche, der Wunsch, unbehelligt zu leben, sein Geld zu verdienen, die Kinder etwas werden zu lassen, und nicht gestört zu werden durch schmerzliche Erkenntnisse." Das ist auch heute noch nicht viel anders. Es gilt immer noch das Wort von Albert Schweitzer über die nutzlosen Guten (s. Ethik+). Man genügt seiner Bürgerpflicht bei den Kommunal-, Landtags- oder Bundestagswahlen und sieht dann zu, was mit einem geschieht. Demokratie ist kein Wert an sich. Man kann sich an sie gewöhnen und einfach weiterleben. Und es reicht nicht zu wissen, was man nicht will. Das wäre nur dann richtig, wenn es nur entweder schwarz oder weiß gäbe. So ist das aber nicht. Es gibt dazwischen ganz viel grau. Deshalb ist das Gegenteil von falsch nicht zwingend richtig. Was richtig ist, muss man sich erarbeiten.

Wenn man sich nur ein wenig intensiver mit der Frage beschäftigt, ob der Nationalstolz den Menschen macht oder umgekehrt, kann man leicht den Faden verlieren. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war die Mehrheit der Deutschen von der historischen Aufgabe und ihrer moralischen Überlegenheit überzeugt. Kaiser Wilhelm II. schrieb noch 1917: "Der Krieg ist der Kampf zwischen zwei Weltanschauungen: der germanisch-deutschen für Sitte, Recht, Treu und Glauben, wahre Humanität, Wahrheit und echte Freiheit…" (zitiert in Ernst Piper: Nacht über Europa, Berlin 2013). Ich nehme an, dass er davon selbst überzeugt war. So wie viele andere, die den Krieg als Befreiungsakt ansahen. Sogar die Mehrheit der deutschen Juden waren von der deutschen Mission überzeugt. Beispielhaft ist ein Brief eines jüdischen Soldaten von der Ostfront, der im Dezember 1914 schrieb: "…Ich bin unendlich stolz, mitkämpfen zu dürfen für das geliebte, bewunderungswürdige Vaterland, …". Ich kann nicht beurteilen, wie stark die angepriesenen Eigenschaften tatsächlich in den Bürgern verankert waren. Vielleicht waren sie nur ein Überbleibsel aus den Hinterlassenschaften der Geistesgrößen der vergangenen zwei Jahrhunderte, die den Begriff des Landes der Dichter und Denker prägten. Immerhin war Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts wenigstens noch in Naturwissenschaft und Technik mit führend. Aber es gab auch schon Nietzsche, der alle Werte relativierte und den Begriff des Übermenschen prägte.

Und es gab den deutschen Militarismus, den militärischen Drill und den Zwang zum absoluten Gehorsam. Wo die Mär vom Übermenschen Realität wurde. Der Kaiser war so verstrickt in die Überzeugung seiner unbedingten Macht, dass er, in die Enge getrieben, tatsächlich glaubte, es mit der ganzen Welt aufnehmen zu können.

So gut die deutschen Werte auch gewesen sein mögen, sie anderen Völkern mit Gewalt aufzwingen zu wollen, führt sie ad absurdum. Deswegen die Werte per se in frage zu stellen ist aber auch nicht zielführend. So banal die alte Weisheit klingt, jedes Ding hat mindestens zwei Seiten, so wahr ist sie doch. Je gefestigter eine Persönlichkeit ist, desto weniger braucht sie äußere Werte, um sich im Leben zurechtzufinden. Für all die anderen, und das ist, wie ich meine, die Mehrheit, braucht es Werte, an denen man sich ausrichten und aufrichten kann. Nicht vergessen sollte man in diesem Zusammenhang, dass auch die gefestigte Persönlichkeit erst dazu geworden ist, indem sie in ihrer Jugend mit den Werten konfrontiert wurde, die sie als Persönlichkeit geprägt haben.

Wie wichtig Werte sind, zeigt die zunehmende Popularität von rechtsextremem Gedankengut. In der Konsequenz, wie sie dort verfochten werden, treiben sie einen Keil in die Gesellschaft. Wie das ausgehen kann, hat das Dritte Reich gezeigt. Es hilft aber nichts, jeden, der irgendwelche rechten Sympathien hegt, gleich als Extremist und Rassist abzuqualifizieren, wie das unisono in den Medien und der Politik geschieht (immerhin der Deutschlandfunk macht da eine Ausnahme). Auch mir kommt das wie vorauseilender Mainstream-Gehorsam vor. Was Oliver Welke in der Heute Show oder Christian Ehring in extra 3 propagieren, darf nicht jeder nachahmen, dem es um differenzierte Daten- oder Meinungsanalyse geht. (Was nicht heißt, dass man vor lauter differenziertem Verständnis nicht mehr zwischen Recht und Unrecht unterscheiden kann, wie mir das manchmal bei den Grünen und Linken vorkommt.)

Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die einen Wertekanon vermittelt, scheint für viele existenziell wichtig zu sein. Etwas vergleichbares findet sich kaum in der Mitte des gesellschaftlichen Spektrums, und je weiter man nach links kommt, desto abstrakter wird es. Das Proletariat ist eine anonyme Masse und viel zu inhaltslos, um als Identitätgeber in frage zu kommen. Und Umwelt- und Klimaschutz oder wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sind zwar wichtige Staatsziele, aber keine sinnstiftende Werte. Während also rechts die Persönlichkeit aufgefangen wird, wo klare Zugehörigkeitsbereiche existieren (auch wenn sie falsch sind), gibt es etwas vergleichbares weder in der Mitte noch auf der linken Seite. Eigentlich gibt es links keine Persönlichkeit mehr, keine Eigeninteressen, sondern nur noch das Kollektiv. Die Persönlichkeit wird glattgebügelt.

In der Mitte ist die Situation nicht richtig klar. Dort gibt es zwar die Tendenz, die Persönlichkeit zu überhöhen. Jeder darf sich im Prinzip frei entfalten, Egoismus ist zur legitimen Triebfeder menschlichen und wirtschaftlichen Handelns geworden. Darüber habe ich mich hier schon mehrmals ausgelassen (s.z.B. Wahrheit und Glaube). Auf der anderen Seite wird durch gesetzliche Regen versucht, die Auswüchse dieses Handelns zu verhindern. Beispielhaft ist der Begriff der sozialen Marktwirtschaft: Hier ist die Triebfeder der wirtschaftlichen (und weil der Mensch ein wirtschaftlich handelndes Wesen ist, auch der menschlichen) Aktivität wie in der Urform der Marktwirtschaft der maximierte persönliche Nutzen. Die abstrakten Kräfte des Marktes vereinen die vielen egoistischen Kräfte zu einem Gemenge, das dem Wohle aller zugute kommt. Weil die Realität meisten anders verläuft als die Theorie, hat ein schlauer Wirtschaftsminister das alles mit einem sozialen Korsett umgeben. Dadurch sorgen v.a. die Sozialversicherungen und die Sozialhilfe (die durch die Hartz-IV Gesetze ersetzt wurde) dafür,dass niemand verhungern muss. Lange Zeit hat das auch gut funktioniert: Die Arbeiter profitierten von dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung, die Löhne stiegen stärker als die Lebenshaltungskosten, die wöchentliche Arbeitszeit wurde immer weiter reduziert. Doch diese Phase ist Vergangenheit. Seit 1991 konnte lediglich das oberste Zehntel der Bevölkerung sein Einkommen steigern, der Rest verdient gegenüber 1991 weniger (s. Entwickelung). Der Niedriglohnsektor nimmt immer weiter zu, die Ohnmacht der Nationalstaaten gegenüber globalen Konzernen ist offensichtlich. Das Recht des Stärkeren wird immer unverhohlener propagiert (siehe Trumps 'America first'). Der in der sozialen Marktwirtschaft sedierte Darwinismus ist dabei, zu neuem Leben zu erwachen. Ebenso wie die Kommunisten glaubten, der reale Kommunismus sei nur eine vorübergehende Phase auf dem Weg zur allgemeinen Herrschaft des Proletariats, gibt es immer noch die Neoliberalisten, für die das Recht des Stärkeren die Gewähr für den kommenden idealen Markt ist. Die Rechten stehen eher in der Mitte, wo das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe die Legitimation für die Elite ist, die ihrerseits eine starke Persönlichkeit braucht, die alle vereint. Das ist ein ziemlich archaisches Prinzip, das nicht aus alten Traditionen herauskommt.

Ich glaube nicht dass man das politische Spektrum als Hufeisen abbilden kann, wie man das von den C-Strategen oft hört. Sie wollen uns weismachen, sie befänden sich in der goldenen Mitte zwischen den extremen – linken und rechten – Schenkeln. Die Wirklichkeit sieht eher wie ein Dreieck aus: Die einen wollen die Persönlichkeit überwinden, für die anderen ist die Persönlichkeit alles, das dritte Prinzip steht eher für Stillstand, für ein Verharren in vermeintlich altehrwürdiger Tradition. Für sich gesehen hat keine der drei Ideologien eine Lösung für die weitere Entwicklung der Gesellschaften.

Visionen

Es müsste etwas Neues kommen, eine neue Vision, die vereint statt auszugrenzen.Eine Synthese, die das vorteilhafte von allen Richtungen in sich vereint.Weg vom Recht des Stärkeren, aber keineswegs im Tausch gegen das Recht des Schwächeren. Die Entfaltung der Persönlichkeit darf nicht behindert werden. Es muss um Integration gehen, um Zusammengehörigkeit. Deutsche Werte dürfen sich nicht aus den Genen herleiten, sondern aus der Gesinnung.

Wir sollten aus der Geschichte lernen. Zwei Weltkriege haben uns gezeigt: Wenn wir unsere Stärke – ob wirtschaftlich oder (vermeintlich) ideologisch – dazu benutzen, andere zu beherrschen, zeigt das Schicksal uns unsere Grenzen.

Höchst bemerkenswert finde ich ein Zitat von Richard Wiener, der am 16.2.2020 in einem Interview im MDR sagte, er fühle sich heute in Berlin sicherer als in Washington. Der gebürtige Wittenberger musste als Kind wegen seiner jüdischen Herkunft aus Nazi-Deutschland nach Amerika fliehen und widmet sein Leben seit seiner Pensionierung der Aussöhnung.

Heute, am 21.2.2020, habe ich eine Diskussion im Deutschlandfunk verfolgt, in der es um Political Correctness ging. Der Beitrag eines Hörers hat mich sehr erstaunt. Er meinte, und seine Meinung wurde durchaus von den Moderatoren geteilt, man solle auf den Begriff 'fremdenfeindlich' verzichten, da dieses Wort bereits in der Sprache eine Herabsetzung der betroffenen Personen bedeute. Allein das Wort suggeriere bereits einen Wertunterschied zwischen eigentlich gleichwertigen Menschen. Das soll wohl heißen: Wenn ich einen Menschen als fremd bezeichne, dann sage ich damit, dass er anders ist, was gleichbedeutend mit der Auffassung ist, dass er nicht wirklich zu uns gehört, sozusagen ein Fremdkörper im Volk. Also: nicht nur der diskriminiert andere Menschen, der sich 'fremdenfeindlich' gebärdet, sondern sogar schon derjenige, der den Fremdenfeindlichen als fremdenfeindlich bezeichnet.

Da wird Wunschdenken mit der Realität verwechselt. Das Wort fremd ist doch lediglich eine Bezeichnung für eine Tatsache, die man nicht so einfach leugnen kann. Fremde sind Menschen, die aus anderen Ländern und/oder anderen Kulturen kommen. Viele von denen legen ihre Fremdheit im Laufe der Zeit ab, sie integrieren sich, und werden zu Einheimischen. Davon zeugen noch viele Familiennamen, die fremd klingen, die dahinterstehenden Menschen aber niemand als fremd bezeichnen würde. Die Bezeichnung 'fremd' ist eine Feststellung, aber keine Wertung, und kann daher auch nicht diskriminierend ausgelegt werden.

Das Wunschdenken, jeden Menschen als gleichwertigen Menschen zu sehen, leugnet die offenkundigen Unterschiede. Und das ist nicht gut. Denn damit wird ja gleichzeitig unsere eigene Identität geleugnet. Wenn es keine Fremden gibt, dann gibt es auch keine Deutschen. (Ich gebrauche das Wort, obwohl ich mir bewusst bin, dass das heute schon nationalistisch klingt.) Das ist das eigentlich schlimme an dieser Auffassung. Deutsch sein ist bereits ein Makel, den man ablegen muss. Mal abgesehen davon, wie richtig oder falsch ein solcher Blickwinkel ist: haben wir sonst keine Probleme, als dass wir uns um Nuancen unserer Ausdrucksweise streiten?

Ich will nicht leugnen, dass diese Auffassung aus berechtigten historischen Betrachtungen herrührt. Aus dem Gefühl des Unterdrücktwerdens kommt die Reaktion: sich wehren, sich abgrenzen gegenüber dem Unterdrücker. Erst die versteckte Feindschaft, dann die offenkundige. Dann der Hass, dann die Gewalt. Wer heute ein Glied in dieser Kette beobachtet, sieht auch schon den Faschismus am Ende. Und reagiert quasi automatisch, empfindet sich selbst als legitimen Widerstandskämpfer. Was damals versäumt worden ist, muss man heute nachholen. Man wettert gegen rechts, v.a. gegen die AfD, und macht sich keine Gedanken um die Ursachen der Unzufriedenheit. Mag sein, dass die AfD durch ihre Rhetorik Hass und Gewalt befördert, sie ist aber nicht deren Ursache, sondern nur das Spiegelbild einer Gesellschaft, die, vielleicht nur unbewusst, Mängel im System sieht. Wenn man nur die Symptome bekämpft, aber nichts über die Ursachen wissen will und mit der eigenen Ideologie weitermacht wie bisher, wird sich nichts ändern. Die Lage wird sich eher verschlimmern.

Wenn jeder Mensch ein Individuum ist, dann ist damit bereits gesagt, dass jeder Mensch anders ist. Jeder hat andere Fähigkeiten, andere Talente, einen anderen Glauben. Menschen unterscheiden sich voneinander. Manche mehr, manche weniger. Das entscheidende ist, dass diese Unterschiede nicht zu Wertunterschieden gemacht werden. Trotz dieser Unterschiede muss ich die Achtung vor dem anderen, auch dem Fremden, nicht verlieren. Ich muss mich aber, allein schon aus Selbstachtung, wehren, wenn jemand sein Anderssein dem Rest der Gesellschaft aufzwingen will. Wo diese Grenze zwischen berechtigtem Anderssein und zwanghaftem Verhalten liegt, das muss die nationale Identität bestimmen. Und deshalb ist das ein wichtiges Thema.

Deutsche Werte

Wie also könnten deutsche Werte aussehen? Wir sollten anknüpfen an die Dichter und Denker der Aufklärung und des Humanismus. Wir sollten Humanität nicht andauernd durch wirtschaftliche Erwägungen relativieren. Wir sollten über unsere Ziele reden. Und zwar alle. Wir dürfen die Definition nicht einer einzelnen Gruppe überlassen und dann über diese Gruppe herfallen, weil wir nicht mit ihrer Definition einverstanden sind. So weit ist es noch nicht, dass wir nicht vernünftig miteinander reden könnten.

Eigentlich haben wir mit der friedlichen Auflösung der DDR und der Wiedervereinigung bewiesen, dass wir in der Lage sind, unsere Probleme ohne Gewalt zu lösen. Wir - also zumindest die Ossis, die Wessis müssen sich erst noch würdig erweisen - dürfen stolz darauf sein. Schließlich war das die erste friedliche Revolution in der Weltgeschichte.

Ich habe eine Vision für die Zukunft. Sie geht davon aus, dass der Mensch als selbstbewusstes und selbstbestimmtes Wesen die Naturkräfte überwinden kann und muss. In der Natur gilt das darwinsche Prinzip: The Survival of the Fittest. Anders als das populäre 'Recht des Stärkeren' beschreibt Darwin die Evolution eigentlich als das Durchsetzungsvermögen des am besten angepassten. Auf jeden Fall beschreiben beide Erklärungsformen der Evolution einen Automatismus, der quasi durch Naturgesetze, Mutation und Selektion, vorgegeben ist. Erst der Mensch hat durch seine Vernunft die Möglichkeit, diese Naturgesetze zu überwinden. Er kann sich eigene Gesetze geben, die sein Verhalten untereinander und der Natur gegenüber regeln.

Unser – kapitalistisches – Gesellschaftssystem beruht auf dem Persönlichkeitsrecht. Am Anfang steht die Persönlichkeit mit ihren besonderen Stärken und Vorzügen, die sich im Konkurrenzkampf mit anderen Persönlichkeiten messen und behaupten muss. Wer nicht mithalten kann, unterliegt. Aus den Einzelpersönlichkeiten werden Firmen und Konzerne, die den gleichen Konkurrenzkampf ausfechten, bis sie irgendwann so groß sind, dass sie keine Konkurrenz mehr fürchten müssen. Facebook beeinflusst die amerikanischen Präsidentschaftswahlen, Großbanken bestimmen die Politik der Staaten, Lebensmittelkonzerne diktieren die Erzeugerpreise und schöpfen den gesamten Gewinn ab. Offensichtlich ist es in allem, was mit menschlichen Aktivitäten zu tun hat, nicht so wie in der Natur, wo trotz der allgegenwärtigen Konkurrenz ein Gleichgewicht entsteht und sich erhält. In den menschlichen Gesellschaften wirkt das darwinistische Prinzip auf lange Sicht eher wie ein Krebsgeschwür, wo unkontrolliertes Wachstum den Organismus letztendlich zerstört.

Das kapitalistische System fördert nur die Starken. Das ist seine Schwäche und wird letzten Endes zu seinem Untergang führen. Daran ändern auch die sozialen Errungenschaften in den fortschrittlicheren Staaten nichts: Bildung für alle, soziale Abfederung. Wer aus einer sozial schwachen Schicht aufsteigt, bewegt sich fortan in der Gesellschaft der Starken und muss deren Gesetze befolgen (s. Systeme). Das Persönlichkeitsrecht geht zwar in die richtige Richtung, aber es ist zu einseitig. Weil es nur die eigene Persönlichkeit berücksichtigt. Die andere Persönlichkeit müsste von vorneherein Teil der eigenen sein. Es geht um das Selbstbildnis des Starken. Der Starke sollte seine Stärke nicht dazu benutzen, um sich gegen andere Starke durchzusetzen, sondern dazu, dem Schwachen zu helfen (s. Todeserfahrung).

Ich bin beileibe nicht der einzige, der massive Mängel in unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem verortet. Gerade (Februar 2020) war mal wieder die Umweltpolitik in aller Munde. Nach 'Fridays for Future' hat Ursula von der Leyen die Klimaproblematik als politische Maxime erklärt. Der 'Green Deel' soll Europa bis 2050 klimaneutral machen. Alle finden das ganz toll, auch weil dadurch jede Menge Arbeitsplätze entstehen sollen. Der Bund Naturschutz schreibt in seiner Vereinszeitschrift: "Aus Bund-Sicht vorrangig ist ein grundsätzlich neues Wirtschaftsmodell, mit sauberer Energie, nachhaltiger Industrie und Mobilität, effizienten Gebäuden, dem Schutz der biologischen Vielfalt und einer klimaschonenden Landwirtschaft." Menschen kommen da gar nicht mehr vor. Menschen kamen beim BN allerdings seit jeher nur am Rande vor.

Es herrscht Aufbruchstimmung in der Wirtschaft, zumindest in den Teilen, die von dieser Entwicklung profitieren. Aufbruchstimmung herrscht auch bei den Flüchtlingen in der Türkei, die Erdogan nach Europa schickt, weil Europa nicht so will wie er. Mag sein, dass eine neue Flüchtlingskrise die Umweltkrise schon bald wieder in den Schatten stellt.

Krisen kommen und gehen, Probleme tauchen auf und werden gelöst oder auf die lange Bank geschoben, die Anforderungen an die Gesellschaft verändern sich beinahe Tag für Tag. Man vergisst darüber leicht, dass das alles letztendlich doch für den Menschen gemacht wird. Eine Politik gegen den Menschen ist keine Politik mehr, sondern wieder Naturrecht. Das ist keine Aufforderung, den Menschen wieder als Herr über die Schöpfung zu stellen, sondern eher die Hoffnung, den Menschen zum Bewahrer und Förderer der Schöpfung zu machen. Wenn der Mensch im Vordergrund steht, gelebte Humanität, wird sich die Entwicklung entschleunigen. Damit man sich Zeit nimmt nachzudenken, wohin man eigentlich will.

Eine neue Welt darf nicht auf gegeneinander, auf Konkurrenz und Egoismus beruhen, sondern auf miteinander, auf Humanität im wahren Sinne. Das wäre keine Einschränkung, sondern eine Erweiterung des Persönlichkeitsbegriffes.

März 2020

 

best private
plots 2008

Landeswettbewerb 2002
Grün und Erholung

¦

Bewertungen
auf Google

¦

aktuelles
auf Facebook

¦
Rufen Sie an
08564/91004